Heutzutage erwarten Menschen ein hohes Maß an emotionaler Verbundenheit und partnerschaftlicher Kommunikation von ihrer Ehe, während sie gleichzeitig großen Wert auf die Wahrung ihrer persönlichen Autonomie legen. Bisweilen geht man davon aus, dass solch ein Wandel zur individualisierten Ehe eine Erklärung für steigende Scheidungsraten sei. Erwartungen an die emotionale Gratifikation durch eine Partnerschaft seien unrealistisch hoch, flexible Rollen und häufige Aushandlungsprozesse würden die Beziehungsqualität erodieren und mehr persönliche Freiheit würde die Trennungskosten reduzieren.
Die ISS-ForscherInnen Nicole Hiekel und Michael Wagner werteten Daten des Deutsche Familienpanels (pairfam) aus und untersuchten den Zusammenhang zwischen Ehepraktiken, die den Grad der Individualisierung einer Ehe abbilden, und dem individuellen Scheidungsrisiko. Rund 3.000 Männer und Frauen, die zum Zeitpunkt der ersten Befragung (2008) zwischen einem und zwanzig Jahren verheiratet waren, wurden bis zu sieben weitere Ehejahre lang beobachtet, in denen ungefähr jede achte dieser Ehen aufgelöst wurde.
Die noch unveröffentlichte Studie zeigt, dass individualisierte Ehepraktiken in der untersuchten Stichprobe recht verbreitet sind. Verheirate Männer und Frauen in Deutschland berichten ein hohes Ausmaß an erlebter emotionaler Zuneigung und Wertschätzung (Intimität), persönlichem Freiraum (Autonomie) sowie Konfliktdiskurse auf Augenhöhe (Demokratie). Solche individualisierten Ehepraktiken hängen zum Teil mit dem Trennungsrisiko zusammen. Paare, die ein höheres Maß Intimität berichten, haben ein deutlich reduziertes Trennungsrisiko. Dieser Zusammenhang ist umso stärker, je länger das Paar verheiratet ist Höhere Autonomie hängt nicht mit dem Trennungsrisiko zusammen. Paare, deren Konfliktlösungsstrategie durch ein höheres Ausmaß an Demokratie gekennzeichnet ist, das heißt, in denen dominantes sowie unterwerfendes Verhalten seltener vorkommen, haben ein deutlich reduziertes Trennungsrisiko soweit sie zum Zeitpunkt der ersten Befragung schon länger verheiratet sind. Diese Befunde suggerieren, dass Paare mit individualisierten Ehepraktiken, die ihre Wertschätzung füreinander sowohl in Momenten der Intimität als auch des Konflikts erfolgreich praktizieren, stabilere Ehen haben, besonders wenn ihre Ehe schon länger besteht.