In Deutschland steigen die Ehescheidungsraten seit über 100 Jahren fast kontinuierlich an. Erst in jüngster Zeit könnte es zu einem Stillstand dieses Trends gekommen sein. Eine in der Familiensoziologie sehr prominente These besagt, dass der Anstieg der Ehescheidungsraten durch einen Wandel der Frauenrolle erklärt werden könne. Dieser Wandel zeigt sich vor allem bei den steigenden Bildungs- und Erwerbschancen von Frauen. Die Frage ist nun, ob das steigende Bildungsniveau der Frauen und ihre zunehmende Erwerbstätigkeit den Anstieg der Ehescheidungsraten erklären könnten. Frauen, die erwerbstätig sind und über ein eigenes Einkommen verfügen, müssen nicht aus finanziellen Gründen verheiratet bleiben, wenn ihre Ehe gescheitert ist. Zudem sind für gut ausgebildete und erwerbstätige Frauen die negativen ökonomischen Folgen einer Ehescheidung wahrscheinlich weniger gravierend. Schließlich kann man unterstellen, dass eine Erwerbstätigkeit beider Partner dazu führen kann, dass keiner der Ehepartner davon profitiert, dass der andere Partner voll und ganz für die eher ungeliebte Hausarbeit zuständig ist.
In den empirischen Analysen von Michael Wagner, Lisa Schmid (ISS) und Bernd Weiß (heute: Universität Duisburg-Essen) werden Daten der German Life History Study (GLHS) verwendet. Dieser Datensatz enthält Informationen über Ehen, die zwischen 1936 und 2005 geschlossen wurden, wobei sechs Heiratsjahrgänge (1936-1945, 1946-1955, 1956-1965, 1966-1975, 1976-1985, 1986-2005) unterschieden werden. Die Analysen beschränken sich auf Westdeutschland, da sich die Ehescheidungsraten in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich entwickelt haben. Je jünger der Heiratsjahrgang ist, desto mehr Ehen werden geschieden. Dieser Befund deckt sich mit entsprechenden Zahlen der amtlichen Statistik. Das Bildungsniveau der Frauen sowie der Anteil der Frauen, die jemals während ihrer Ehe erwerbstätig waren, steigen von Heiratsjahrgang zu Heiratsjahrgang. Dennoch kann damit nicht erklärt werden, dass das Scheidungsrisiko bei Ehen, die in jüngster Zeit geschlossen wurden, deutlich höher ist als bei Ehen, die vor längerer Zeit geschlossen wurden. Weder ist es so, dass der zunehmende Anteil gut ausgebildeter oder erwerbstätiger Frauen den Anstieg der Scheidungsraten über die Heiratsjahrgänge hinweg aufklärt, noch haben sich die Einflüsse des Bildungsniveaus oder der Frauenerwerbstätigkeit auf das Scheidungsrisiko mit der Zeit markant verändert. In unserem Artikel (Wagner et al. 2015) werden alternative Erklärungsmöglichkeiten für die historische Entwicklung der Scheidungsraten diskutiert. So ist es wahrscheinlich, dass die normativen Barrieren, die einer Scheidung entgegenstehen können, abgebaut wurden. Ferner können die (Selbstverwirklichungs-)Ansprüche an den Ehepartner oder die Ehepartnerin gestiegen sein, sodass immer Paare mehr diesen Anforderungen nicht gerecht werden können. Möglicherweise ist demnach nicht so sehr ein sozialstruktureller, sondern ein kultureller Wandel für den historischen Anstieg der Ehescheidungsraten verantwortlich.