Im Jahr 2022 verzeichnete Deutschland einen bemerkenswerten Anstieg der polizeilich registrierten Kinder- und Jugendkriminalität. Die ISS-Forscher Christof Nägel und Clemens Kroneberg haben diese Entwicklung auf Basis grundlegender kriminologischer Erkenntnisse über Jugendkriminalität und Kriminalitätsstatistiken beleuchtet und die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) eingehender analysiert, um die Relevanz möglicher Ursachen für den postpandemischen Anstieg der Delinquenz abzuschätzen.
Die deskriptive Studie zeigt, dass der Anstieg vor allem in den Bereichen Gewalt- und Diebstahlsdelikte sowie bei den 12- bis 16-Jährigen konzentriert ist. Weitere Simulationsanalysen legen nahe, dass die Aufhebung der kontaktreduzierenden Maßnahmen zu einem starken, alterstypischen Anstieg der polizeilich registrierten Kriminalität unter Jugendlichen führte. Diese post-pandemischen Normalisierungseffekte erklären jedoch nicht vollständig den beobachteten Anstieg in der Altersgruppe der 12- bis 16-Jährigen.
Die beiden Soziologen argumentieren, dass zeitliche Verschiebungseffekte die plausibelste und sparsamste Erklärung für diesen übermäßigen Anstieg bieten: Während der COVID-19-Jahre hatten diese Kohorten weniger Gelegenheiten für alterstypische Erfahrungen und Aktivitäten, etwa das Besuchen von Unterhaltungsszenen mit Gleichaltrigen, welche ein erhöhtes Risiko für Regelverstöße bieten – wodurch einige Jugendliche diese Aktivitäten erst nach Aufhebung der Eindämmungsmaßnahmen nachholten. Solche zeitlichen Verschiebungseffekte sind wahrscheinlich nur vorübergehend, doch die theoretische Diskussion der ISS-Forscher deutet darauf hin, dass die Beeinträchtigung von Schulen als Orte des sozialen Lernens, als Frühwarnsystem und als Schutzräume vor sowie Orte der Aufdeckung von familiärer Gewalt während der COVID-19-Pandemie zu einem weiteren Anstieg der Jugendkriminalität in der Zukunft führen könnte. Zu diesem prognostizierten Anstieg der Jugendkriminalität ist es laut der jüngsten veröffentlichten PKS im Jahr 2023 auch tatsächlich gekommen. Es bedarf daher effektiver Strategien, um die langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf die Jugendkriminalität zu mindern und präventive Maßnahmen zu stärken, die die sozialen Funktionen der Schule und andere Schutzmechanismen wiederherstellen.