Vor dem Hintergrund steigender Lebenserwartung gewinnt die Frage, welche Faktoren den Erhalt kognitiver Fähigkeiten bis ins hohe Alter vorhersagen, zunehmend an Bedeutung. Zu den kognitiven Fähigkeiten zählen beispielsweise das Erinnerungsvermögen, das logische Denken und die Geschwindigkeit, mit der Informationen verarbeitet werden können. Als förderlich für den Erhalt dieser Fähigkeiten gelten gemeinhin körperliche Betätigung sowie soziale und intellektuelle Aktivitäten. Außerdem wird spekuliert, dass die Möglichkeiten zur Ausübung dieser Aktivitäten auch von der Wohngegend mitbestimmt werden.
Aus diesem Grund untersuchten die ISS-Wissenschaftler Jonathan Wörn und Lea Ellwardt gemeinsam mit Kollegen aus Amsterdam und Oslo, inwiefern der sozioökonomische Status und der Grad der Verstädterung einer Wohngegend in Zusammenhang mit den kognitiven Fähigkeiten ihrer älteren Einwohner stehen.
Hierzu nutzen die Wissenschaftler Informationen zum durchschnittlichen Einkommen und zur Dichte der Wohn- und Geschäftsadressen 63 niederländischer Wohngegenden. Diese verknüpften sie mit Daten von 985 Bewohnern dieser Wohngegenden, die an der Longitudinal Aging Study Amsterdam (LASA) teilnahmen, um zu analysieren, wie sich verschiedene kognitive Fähigkeiten von 65- bis 88-jährigen Personen innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren entwickelten.
Den Ergebnissen der Studie zufolge waren zwei der vier untersuchten kognitiven Fähigkeiten bei älteren Bewohnern von Wohngegenden mit einem höheren Durchschnittseinkommen besser ausgeprägt. Die Unterschiede zwischen den Wohngegenden wurden jedoch nicht durch die Wohngegenden verursacht, sondern konnten durch die höhere Bildung und das höhere individuelle Einkommen dieser Personen erklärt werden. Diese beiden Faktoren stehen zum einen in positivem Zusammenhang mit den kognitiven Fähigkeiten und erhöhen zum anderen die Wahrscheinlichkeit, in einer Wohngegend mit höherem Durchschnittseinkommen zu leben.
Außerdem hatten ältere Personen in stärker verstädterten Wohngegenden bessere kognitive Fähigkeiten. Diesen Befund erklärten die Wissenschaftler damit, dass die alltäglichen Anforderungen in stärker verstädterten Wohngegenden ein alltägliches kognitives Training darstellen, beispielsweise durch die Vielzahl an Informationen, die bei der Teilnahme am geschäftigen Straßenverkehr verarbeitet werden müssen. Allerdings könne dieser Effekt in sehr stark verstädterten Wohngegenden auch ins Gegenteil umschlagen und durch Überforderung zu schlechteren kognitiven Fähigkeiten führen.
Da die Abnahme kognitiver Fähigkeiten im beobachteten Zeitraum unabhängig von den untersuchten Eigenschaften der Wohngegend war, müssen die Unterschiede zwischen Personen in stärker und weniger stark verstädterten Gegenden nach Ansicht der Wissenschaftler bereits in früheren Lebensjahren zustande gekommen sein.
Insgesamt waren die beobachteten Unterschiede zwischen den Wohngegenden relativ gering. Dementsprechend empfehlen die Wissenschaftler, dass sich eventuelle Maßnahmen zum Erhalt kognitiver Fähigkeiten an den Bedürfnissen von Individuen orientieren sollten.